Schnee von gestern
Altes Silber neu poliert
Schnee von gestern, das sind die Silberkörner der Negative, die seit fast zwei Jahren in einer Mappe hinter meinem Schreibtisch auf das Licht der Gegenwart warten. Sie zeigen Menschen und Geschichten, die jene wunderbare Zeit, die ich damals in Kroatien verbracht habe, erst so wunderbar gemacht haben. Nicht alle von ihnen waren in der Serie zur Austellung “Begegnungen – Begehungen” vertreten. Aber dieser Schnee ist geschmolzen, verdampft und aufgestiegen in den Himmel, von dort hat er den Reiz des Anderen gesehen, und prasselt nun als kondensiertes Fernweh auf mein Gesicht nieder. Deswegen werde ich bald aus einem Zugfenster schauen während meine Hände in freudiger Erwartung visueller Vergnügen den Blendenring hin- und herdrehen. Umso dringlicher wird es, dieses Kapitel abzuschließen, allen Protagonistinnen die Referenz zu erweisen, und mein Gehirn ordentlich auszulüften.
BILDER KLICKEN FÜR RICHTIGE GROSSE VERSION!
Wir befinden uns im August 2010 mitten in Zagreb. Tags zuvor habe ich Amir in seinem Spezialitätengeschäft Miris Duna in der Radiceva kennen gelernt. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, hat sich das ruhige Lokal als mein Refugium und meine Kaffee-Oase im Zentrum Zagrebs etabliert. Der Mann, der ursprünglich aus Bosnien stammt, liebt sein Geschäft und fährt gelegentlich in die Türkei um nach unentdeckten Kaffeesorten zu suchen, oder sich einfach inspirieren zu lassen.
Mich inspiriert die Atmosphäre, die seine Liebe zum Genuss und zu seiner Kundschaft erzeugt, die Großzügigkeit, mit der er neue Gäste mit kostenlosem türkischen Kaffee und Baklava bezirzt, aber vor allem die Geschichte über seinen Bruder, der im Krieg einen Kopfschuss überlebt hat, in Norwegen medizinisch versorgt und rehabilitiert wurde und sich seither dort als Lehrer ein neues Leben aufgebaut hat. (Die Beiläufigkeit, mit der ich das erwähne, soll keine Respektlosigkeit sein, sondern nur eine Wiedergabe des mir Erzählten sein).
Beingenetik
Deswegen will ich heute wieder hingehen und spaziere die Ilica Richtung Zentrum entlang. Ich glaube, dass die Grundlage einer solchen Reise immer der eigene Antrieb ist, vor allem jener der Beine, auf die man sich zwecks des Flanierens verlassen können muss. So wurde ich letztens hellhörig, als im Fitnesscenter zwei junge Herrn über die schlechte Beingenetik eines Bekannten sprachen – diesen Ausdruck zum ersten Mal hörend. Ich hoffe jedenfalls, dass meine Beingenetik – wenn auch vermutlich nicht den ästhetischen Ansprüchen der innerstädtischen Wiener Seitenblicke-Jugend genügend – ausreichen wird, um meine Kamera und mich noch über die grauen Beläge vieler heimischer und fremder Strassen zu tragen.
Solche Überlegungen stehen übrigens auch im Zentrum meines Verhältnisses zu zu vielen Fotos und zu wenig Zeit, bzw. den relativ langen Abständen zwischen der Aufnahme und ihrer Verwendung. Denn sollte ich aus irgend einem Grund einmal nicht mehr das tun können, was ich am liebsten mache, so werde ich zumindest Material für die Jahre danach auf Vorrat haben – wenn die Beingenetik nicht mehr reicht.
Kopflos zu Fuss durch Zagreb
Ich schweife ab. Kopflos eben. So wie die Schaufensterpuppe, deren aufgespießter Torso in irgendeinem Hauseingang entlang des Weges ein Kleid zur Schau stellt (was Schaufensterpuppen eben so zu tun pflegen). Aber diese macht ihre Arbeit besonders gut, eine Sirene, die mich die Einfahrt entlang zieht, bis ich einen weißen Kittel sehe, dessen Trägerin mir den Rücken zudreht während sie Schuhe putzt. In dem Moment als ich ein Foto mache dreht sie sich um, und zwei mal Lächeln ergibt einmal stehen bleiben.
Die Schuhe sind nicht die von Jaselkas Mann Zeljko, der drinnen in der Werksatt arbeitet, sondern die seiner Kunden. Es gibt also noch Schuhe die repariert anstatt ersetzt werden, aber vielleicht nicht mehr lange, zumindest nicht hier, denn Zeljko überlegt langsam das Geschäft aufzugeben, weil es eben nicht mehr so gut läuft. Bis dahin wird den New-York-weil-Opernfan immer eine singende Stimme bei der Arbeit begleiten, und seine Frau ihn gelegentlich unterstützen. Mit der man übrigens hervorragend über Gott und die Welt plaudern kann, von Zagreb über Politik und Frau Prinz aus dem Ersten Wiener Bezirk, die vor kurzem zu Besuch gewesen ist.
Ich hasse es in solchen Situationen auf die Uhr zu sehen, aber als ich merke, dass es bald sieben schlägt, werde ich etwas unruhig. Ich weiß das Quellwasser aus den Bergen, die Äpfel aus dem eigenen Garten hinter dem Haus und den Bio-Schnaps zwar zu schätzen, aber das Verlangen nach Amirs türkischem Kaffee ist übermächtig.
Kurz bevor ich mich auf den Weg mache, lerne ich noch Jaselkas Nachbarin kennen, deren Textilladen und seiner stummen Marktschreierin (weswegen mag sie wohl ihren Kopf verloren haben?) wir unsere spontane Bekanntschaft verdanken. Mein Abend ist vorerst gerettet als ich Amir nicht nur antreffe, sondern sofort – als wäre es selbstverständlich – ein liebevoll zubereitetes Kännchen Kaffee bekomme, das ich an dem kleinen Tischchen an der Wand einnehme. Alles in räumlich und sinnlich kongruenter Harmonie.
Süsser Kannibalismus
Kafayi yemek ist Türkisch und bedeutet wörtlich so viel wie den (eigenen) Kopf zu essen, sinngemäß bezeichnet es Zustände geistiger Entgleisung, mitunter wegen Liebe oder Sehnsucht. Eine bild-gewaltige Umschreibung auf jeden Fall, eigentlich ein imaginierter Akt des Kannibalismus gegen sich selbst, die mich wünschen macht Türkisch lesen zu können. Meine Lust auf orale Einverleibung beschränkt sich allerdings noch auf die flüssige Finsternis im Kupferkännchen und klebrig süße Würfel, die man um den Einsatz von Zahnfüllungen zu werfen glaubt.
BILDER KLICKEN FÜR RICHTIGE GROSSE VERSION!
Ich werde wohl irgendwelche Pläne für später gemacht haben, aber die Situation hat – wie schon so oft – ganz andere Pläne, und die sind meistens besser als meine. Mit meinem Kaffee kann ich mir Zeit lassen, ohne Skrupel haben zu müssen Amir am Heimgehen zu hindern. Zumindest teile ich diese schwere Last des Gewissens mit den drei jungen Leuten, die eben zur Tür herein gekommen sind und sich neugierig im Laden umsehen. Wie gesagt, Amir steht mit beiden Beinen und dem Herzen in diesem Geschäft, und bietet allen dasselbe an wie mir. Ich bin dabei schon so im Fluss mit meiner Kamera, dass es mir selbstverständlich erscheint, die ganze Zeremonie zu dokumentieren.
Andreja, Maria und Ivan sind von Aspergeri nach Zagreb gekommen um an diesem Abend Andrejas Geburtstag zu feiern. Sie hätten wohl keine bessere Wahl treffen können, als zur sinnlichen Abrundung des Ausflugs ins Miris Duna zu stolpern.
Dementsprechend genießen sie die süße Verköstigung, die Amir mit Hingabe neben meinem Kaffee serviert. Vom vielen Zucker berauscht manövriere ich das 28er in der intimen Enge des kleinen Tischchens, das wir uns teilen, ohne Hemmungen zwischen den Schlemmenden hin und her. So dauert es nicht lange, bis wir ins Gespräch kommen und den obligatorischen Dialog des ersten Kontakts zwischen Einheimischen und Fremdem absolvieren.
Ich habe natürlich auch noch keine Vorstellung, wo Aspergeri liegt, als mich das Trio einlädt, am nächsten Tag einer Probe des Kirchenchores beizuwohnen, den Ivan leitet wenn er nicht grade in einer Rockband spielt. Aber heute besuchen wir noch die Sternwarte in der Oberstadt, diskutieren über den Dächern von Zagreb über Politik, Religion und die sozialen Verwerfungen eines nach Westen strebenden Kroatiens.
Dabei erfahre ich auch von der in Bau befindlichen Tiefgarage vor dem Kino Europa, die trotz der Intervention von Anrainern und Projektgegnern und im Interesse eines einzelnen Kapitalisten mithilfe der Staatsgewalt durchgesetzt wurde. In diesem Licht fühlte ich ich mich auch bemüssigt die von wem oder was auch immer zensurierten Fotos, die diesen Platz zeigen, hier (ganz unten: “Eine Frage der Sicherheit) zu veröffentlichen. Und deswegen hat jenes Bild für mich eine besondere Bedeutung, das ich an einem Sonntag neben der Baustelle aufgenommen habe, und das jene Staatsgewalt darstellt, die mich wenige Minuten nach der Aufnahme des Platzes verwiesen hat. Das Objektiv befindet sich dabei in demokratisch relevanter Koalition mit dem zivilen Subjekt am Fenster im Hintergrund.
Jetzt wäre zum Beispiel so ein Moment, um ein Stück vom eigenen Kopf abzubeißen. Wir ziehen es aber vor, uns eines dieser Freiluftkonzerte an der Bergstation der städtischen Zahnradbahn anzusehen, von denen ich erfahren habe, als ich Hrovje ein Stück seines Weges begleitet habe. Außerdem wird es Zeit, mit dem köstlichen Getränk, dessen genaue Bezeichnung und Zusammensetzung ich nicht mehr weiß, auf Andrejas Geburtstag anzustoßen. Wir tun das mit den Plastik-Sektgläsern, die wir vom freundlichen Angestellten der Sternwarte bekommen haben. Scheinbar gibt es dort auch manchmal etwas zu feiern.
Ich hätte noch eine Weile bleiben und die Gesellschaft meiner bezaubernden neuen Freunde genießen können, aber da ich mit Zoki (dem Besitzer, der Pension in der ich einquartiert bin) vereinbart hatte, das Zimmer zu wechseln, wollte ich noch vor 23 Uhr zurück sein. Allerdings sehe ich von Zoki keine Spur, stattdessen erhalte ich vom Kellner die lakonische Erklärung, dass der Hausherr wegen übermäßigem Alkoholgenuß indisponiert sei und wir die Angelegenheiten am nächsten Vormittag regeln würden. Kafayi yemek.