Oder warum Kunst und Leben nicht planbar sind
Seit Type O Negative cool waren, ist “Christmas Mourning” für mich untrennbar mit den Weihnachtsfeiertagen verbunden. Diesmal wollte ich meinen eigenen künstlerischen Beitrag leisten, die stille Zeit ästhetisch ausschlachten.
Über Weihnachten im allgemeinen möchte ich dabei gar nicht viele Worte verlieren; es nicht zu mögen, den Konsum zu verurteilen und die wirkliche Stille zu vermissen, gehört schon lange zum Schick des Dagegenseins, wobei ich alle diese Positionen teile. Vielleicht bin ich auch schick dagegen.
Da ich dieses Jahr ohnehin allein war, und das Haus, in dem ich wohne, über die Feiertage tendenziell leer ist (sprich von einer Totenstille), bot sich die Gelegenheit aus der Opposition zur festlich – nicht gestimmten, sondern – getrimmten Stimmung eine Festrede meiner inneren Stimme zu machen. Anstatt auf die Ankunft von jemanden zu warten, lieber bei mir selbst ankommen, Präsenz statt Advent (1), sinnliches Feiern des puren Seins statt feierlicher Besinnung. Ein durchwegs individualistisches, unpolitisches, rein von der Lust auf die eigene Existenz getriebenes Programm!
Ich würde die Ruhe einsaugen, dazwischen Musik hören (aber nicht Type O), Essen was ich immer esse, aber stets frisch gekocht und – natürlich – mit mehr Hingabe. Ich würde die Einsamkeit zelebrieren, weder lachen noch weinen, nur von einer angenehm leichten Melancholie ergriffen sein – ein Gefühl wie ein kleines Bier zuviel, aber nicht mehr. Ich würde die menschenleeren Viertel der Stadt durchwandern, dem Klang der Stille lauschen und auf den Pflastersteinen schrittweise die letzten Tage des letzten Jahres eintanzen.
Wenn Autoscheinwerfer die Finsternis zerteilen, werden Schatten und Verschlußzeiten länger. Der feiertägliche Exodus und die damit einhergehende Rarheit beleuchteter Auslagen und Fenster erzeugten die unwirklichen Licht- und Tonverhältnisse auf den Straßen des Textilviertels, und damit die passenden Kulisse für mein Theater. Luster, die sonst sanft und warm leuchten, reflektierten nur mehr das brutale Licht der Straßenlampen.
Selbst das Aera war geschlossen, nur in der Küche schien jemand zu sein. Das ist die Ära der flexiblen Zeiteinteilung (obwohl das im Gastgewerbe wohl nichts neues ist).
In der Nähe der Kirche Maria am Gestade sah ich aber doch immer wieder einzelne Personen, mitunter sogar kleine Grüppchen. Zufälligerweise (das mit der Planbarkeit ist so eine Sache) fand gerade eine Weihnachtsmesse statt, oder war im Begriff stattzufinden.
Deswegen hatten es manche eilig, in die Kirche zu kommen – oder vielleicht spornte die Vorfreude auf die Geschenke danach die jungen Leute an.
Es kamen aber auch ständig Passanten (Touristen?) die kurz im Inneren der Kirche verschwanden, um nach wenigen Minuten wieder herauszukommen. Ich wurde zu einem von ihnen, wobei meine Visite wohl unter einer Minute dauerte; selbstverständlich wollte ich die Messe nicht ungebührlich stören.
Ein paar Schritte weiter, wo sich die Salvatorgasse so zauberhaft verschlafen von der Kirche weg schlängelt, hofften zwei Silhoutten, die sich als Vater und Sohn gerierten, vor einem Hauseingang auf Erlösung vom Warten auf den Rest der Familie.
Ein einsames Kind schien auf der Flucht vor dem Springwolf zu sein, und während ich in der Auslage wieder einmal das Keynes-Zitat auf dem Ghettoblaster las, zerrissen allzu grelle Autoscheinwerfer meine Schatten und klatschten sie auf die Wand. Diesem Viertel mit seinem magischen Flair war selbst am heiligen Abend meine metaphysische Integrität nichts wert.
Zur Verteidigung des Textilviertels muss ich allerdings erwähnen, dass es wohl nicht allzuviele Betonhaufen gibt, die so sehr mehr sind als die Summe ihrer Einzelteile, und gleichzeitig so bereitwillig dabei, ihre flüchtige Essenz zu offenbaren – meiner Linse und mir, ihrem biologischen Fortsatz.
Der Wüsrstelstand am Hohen Markt, der besonders für die späte Verpflegung von Nachtschwärmern bekannt ist, war zu Weihnachten geschlossen, was einen vorbeifahrenden Taxifahrer zu verzweifelten Protestrufen seines Hungers wegen veranlasste … “Ois hot zua, i vahunga – heast!”. Dieser Fleischtempel ist selbst ein sozialer Leberkäs, der Menschen aller Provenienzen vereint – hier regiert Geschwisterlichkeit im Heißhunger, im Zeitmangel, in der Intensität des verstärkten Geschmaks an der “frischen” Luft.
Mir stand der Sinn allerdings nach ein bisschen mehr Weihrauch, und deswegen hatte ich mir schon eine Route zurück zur Kirche Maria Am Gestade zurecht gelegt, die beim Artis Kino vorbeiführt. Es ist ein bekanntes Phänomen, wie bestimmte Plätze – oder Gassen-Platz-Gassen-Kombinationen – diesen Groove haben, der immer wieder neu gefühlt werden will. In diesem Sinn ging es vom Hohen Markt zum Tuchlauben, rechts in die Schultergasse (2), beim Artis vorbei und Richtung Judenplatz.
Es kommt nicht oft vor, bzw. sehe ich nicht oft, dass der Platz vor dem Artis so unheimlich abgedunkelt wirkt. Darum musste ich länger verweilen und mich am Chiaroscuro dieses Abends weiden, bevor mir wieder einfiel, dass ich eigentlich der Nase anstatt den Augen zum inspirierenden Duft der liturgisch gemessenen Ekstase folgen wollte.
In diesem Sinne hatte mich die Langsamkeit ergriffen, mit der die katholischen Messen der geschlossenen Masse das Gemeinschaftserlebnis, die Transzendenz des Selbst in einer seit Generationen erprobten und wenn überhaupt nur inkrementell entwickelbaren Choreographie ermöglichen. Passive Partizipation, Alleinsein in Gesellschaft, das sind die Eckpunkte einer Erlebniskultur fast wie im Kaffehaus. Also was würde dieser Abend für mich bereithalten, die visuelle Epiphanie oder einen großen Schwarzen?
Zu spät. Das ist eine Phrase, aber für manche ein Programm, ein Motto, eine Haltung, ja ein Lebensentwurf! Da trugen mir schon die KirchgängerInnen (ist das Binnen-I ein Fehlgriff der linken Hand vor dem Herrn?) ihre Einkaufstaschen entgegen, Ankunft des homo consumens in der Wipplingerstraße, sozusagen.
Am schönsten ist das große Fest noch immer für die Kleinen. In diesem Fall durfte ich eine Bescherung aus dem Kofferraum des in der Nähe geparkten Autos beobachten. Den Moment der Übergabe allerdings habe ich verpasst, es ist alles blitzschnell gegangen. Aber die Freude war dennoch groß, zumindest momentan.
Anstatt einer Erleuchtung des Geistes begann sich bald eine Unterkühlung der Füße anzukündigen. Es mussten auch schon Stunden vergangen sein, tatsächlich gelang es mir dabei in etwas einzutauchen und die Zeit zu vergessen. Dieser Abend sollte mir, mir allein gehören, Inszenierung und Genuss der Einsamkeit – allem Pärchen- und Familienzwang zum Trotz. Und es ist ein Zwang, ein impliziter nämlich.
Wie eiskalt brutal und hinterlistig der soziale Imperativ formuliert werden kann, fällt nur den Einsamsten zur einsamsten Zeit auf. Oder den Mutigsten, die nicht jeden institutionalisierten Strohhalm ergreifen, den die Gesellschaft oder das nächste Umfeld einem noch gnädigst entgegenstreckt. Oder den Ärmsten, die keine andere Wahl haben, als das Nicht-Dazu-Gehören bis zur bitteren Neige auszukosten.
Dieser Imperativ fordert das soziale Subjekt zur introvertierten Geselligkeit auf, d.h. die Zeit mit der Familie und/oder dem Partner oder der Partnerin zu verbringen, der/die idealerweise auch Grundstock eines neuen Familienstands ist. (Ein angehender Bräutigam erwähnte einmal nebenbei, dass seine Braut und er nun einen gemeinsamen Hausstand begründen würden. Das werde ich nie vergessen, denn das Wort “Hausstand” rief bei mir Faszination und noch mehr Unbehagen hervor. Menschen denken tatsächlich in solchen Kategorien. Auch wenn ich einen Hausstand habe, bin ich mir dessen kaum bewusst, und noch weniger verspüre ich das Bedürfnis, diese Tatsache ausdrücklich zu formulieren, und schon gar nicht mittels dieses Wortes.)
Besonders an Festtagen bestraft dieser Imperativ der Geselligkeit jene Menschen, die aus welchem Grund auch immer seiner Aufforderung nicht nachkommen. Er transformiert jene Teile der Welt, die seinem Regime unterworfen sind, in unwirtliches Terrain für Einsame. Und das ist sehr milde ausgedrückt. Die Präsenz der Festlichkeit, welche eine kongeniale und geschlossene Gruppe erfordert um ertragen werden zu können, ist hermetisch in Bild, Ton und Geruch. Dabei entsteht eine Dynamik, die Individuen entweder in Gruppen zwingt oder atomisiert, wobei letztere zu defensivem Verhalten neigen und von ihrer Einsamkeit tendenziell schweigen. Was die Dynamik der Atomisierung noch verstärkt, weil zwischen den Atomisierten keine Solidarität herrscht, die wenn geistig vorhanden schon ausreichend wäre. So kommt es, dass Radiosendungen zu diesem Thema gemacht werden, in denen Betroffene ganz aufgeregt die Erkenntnis kundtun, dernach es tatsächlich auch andere gäbe, die allein zuhause sitzen und auf ihr Alleinsein halb schuldbewusst, halb verzweifelt zurückgeworfen sind. Umso wichtiger ist das Bloßlegen der strukturellen Gewalt gegen Einzelne (die gesamtgesellschaftlich natürlich als zumindest signifikante Minderheit zu verstehen sind), die aus den Christbaumkuglen auf uns hernieder blitzt, mit Lametta uns die Kehlen zuschnürt.
Die Mutigen wissen zumindest schon, dass es ein Leben nach der Geburt gibt, dass man die Einsamkeit, ob selbst gewählt oder gezwungen, gestalten kann. Ich behaupte nun aber nicht, besonders mutig zu sein. Die kalten Füße, ein brummend volles Kaffeehaus und die Vorstellung von aromatisch flüssiger Schwärze unter meiner Nase trieben mich in die Geselligkeit, wenn auch eine entschärfte Form davon; eine Masse nicht unähnlich der im Gottesdienst versammelten. Häferl und Keks statt Kelch und Hostie. Zigarettenqualm satt Weihrauch. Radio Wien satt Kirchenchor.
Langsam wurde es mir bei den Stehplätzen zu eng, und außerdem zog es von der Eingangstüre herein. Also gab ich dem Messdiener bescheid und nahm mein Häferl zu einem gerade frei gewordenen Halbsitzplatz mit, dem eleganten Herrn folgend, der vorhin an der großen Glasscheibe auf einen Freund gewartet hatte. Perfekt, eine erhöhte Position, die Schulter in die Ecke gepresst, Überblick. Nun beschloss ich definitiv länger zu bleiben und die Halbeinsamkeit zu genießen.
Mein Platz war beliebt, das Bedürfnis nach Wärme scheinbar größer als gedacht. Es lag etwas in der Luft, abgesehen vom Qualm. Die Inszenierung war hier zu Ende, die Wirklichkeit hat die Regie übernommen. Ich wurde nicht bemerkt, ich war durchsichtig, ich konnte fotografieren soviel ich wollte, es fiel niemandem auf.
Das Mädchen am Nebentisch allerdings war jemandem aufgefallen, und der machte kein Hehl daraus. Aus ihrem Schatten heraus konnte ich noch unbemerkter fotografieren. Der Herr direkt neben mir war voll in seinen kleinen Braunen vertieft, lenkte sich nur zwischendurch mit dem Rollen von Zigaretten ab.
Das Mädchen und sein Begleiter waren von ausgelassener Heiterkeit, völlig entspannt und neugierig auf das österreichische Bier, dessen überragender Qualität sie der Kellner versicherte. In der Zwischenzeit hatte ich den Alibikaffee auch schon hinter mich gebracht (der wirklich köstlich war) und war beim Bier angelangt. Der unbedingte Wille zur Einsamkeit, die Lust auf raue Höhenluft waren bald vernebelt, der Durst auf eisig-klares Quellwasser bald kultiviert auf solches in gebrauter Form. Dem Mut war plötzlich kuschelig zumute, und schon flog mich der Klangteppich aus mantra-artigen Kaffehausstimmen, Gläserklirren und Hintergrundmusik in das fruchtbare Land zwischen Potentialiät und Intensität. Dort erzählt man den Kindern, auch denen die es geben könnte, die Märchen von tausend und einer Möglichkeit.
Den Kellner habe ich oben metaphorisch als Messdiener bezeichnet. An unserer losen Batterie aus drei Stehtischen schlüpfte er aber auch in die Rolle des Moderators, wurde zur integrativen Figur zwischen Fremden unter Fremden. Meine Kuschelecke gewann an sozialem und kommunikativem Gewicht, nicht zuletzt durch seine beiläufig zwanglosen Interventionen und konversationellen Einwürfe.
Der Platz im dynamischen Epizentrum des Etablisments hatte mich gerufen und ich bin gekommen. Hier musste jeder und jede vorbei, der oder die sitzen wollte – oder zum Klo. Wie die drei Könige dem Stern bin ich dem eleganten Herrn gefolgt, und habe Flor und Bejamin gefunden, oder sie mich.
Das war die perfekte Kombination für einen Weihnachtsabend abseits der gewohnten Strukturen. Sie waren mit Interrail durch Europa unterwegs, und ich mit kultiviert-verbürgerlichter Ablehnung durch die Innenstadt. Sie hatten einen Tisch im Lindenkeller reserviert und luden mich ein sie zu begleiten. Ich revidierte meine ohnehin bemitleidenswerten Abend-Pläne und sagte zu.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten wegen der Zweier-Reservierung aber drei Gästen bekamen wir einen schönen großen Tisch. So machte sich meine Begleitung schon deswegen bezahlt, weil die Zweier-Tische sehr klein an der unteren Grenze der Zumutbarkeit angesiedelt waren. Meine compadres aus Mexiko ließen sich von mir die österreichischen Spezialitäten in englische Annäherungswerte übersetzen, aber es hat alles wunderbar funktioniert, und die Speisen stellten uns tatsächlich zufrieden.
Die Atmosphäre war schräg, ein bisschen zu bemüht österreichisch, wenn ich das so vorsichtig formulieren darf. Aber einem Gin-Tonic ist es schließlich egal wo es getrunken wird, nur nicht von wem.
So spielt das Leben, es improvisiert am Saxophon der unerwarteten Wendungen und zerrt mich und zwei neu gewonnene mexikanische Bekanntschaften zu Weihnachten vor einen großen Spiegel, in dem wir drei neben einem Christbaum stehend von einem Portrait Kaiser Franz-Josefs beobachtet werden. Jetzt würde ich gern Englisch schreiben um das mit “oh well” kommentieren zu können.
Das Gin Tonic haben wir in Wahrheit im Lukas getrunken, nachdem wir uns gegen die Mitternachts-Mette und für eine Bar entschieden haben, ganz demokratisch zwei gegen eine. Aber der Spruch aus der Remi-Matin-Werbung klingt mit Bier nicht so gut.
So hat der Zufall mit Nachhilfe meine Pläne veredelt, einen Abend des programmatischen Alleinseins in eine wunderbare Begegnung übergeleitet, schickte mich mit dem guten Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten zum Nachtbus, und bescherte mir so doch noch das ultimative Einsamkeits-Erlebnis.
Denn zum ersten Mal in meinem Leben war ich der einzige Fahrgast in einem Nachtbus, oder Bus überhaupt. Dieses Gefühl durfte ich bis zum Gürtel auskosten, ein Gefühl, das das Thema des Ausschlusses fortsetzt. Denn der Chauffeur, der zweifelsohne anwesend war, wird in der Wahrnehmung von dem was Gesellschaft ist nicht mit eingerechnet. So wie die Familie und ihr enger Kreis auch immer einen Ausschluss impliziert, von allem, was nicht zu diesem Kreis gedacht wird. Ein hermetisches Prinzip von Diskriminierung.
Dabei hatte ich aber das Gefühl, dass der Chauffeur sich in seiner Rolle recht wohl fühlte, oder zumindest nicht vom neu zugestiegenen Fahrgast mit einer pseudo-freundschaftlichen rührseeligen Es-ist-Weihnachten-wir-sind-alle-gut-drauf-Anmache zwangs-beglückt werden wollte. Sehr sympathisch, sehr nachvollziehbar.
Der Coca-Cola Weihnachtsmann war und ist mir weniger sympathisch, aber ich beschloss ihn in dieser Nacht versöhnlich und positiv in meine Wahrnehmung einzubauen. Zum Schluss ein kleines Amüsement statt mittlerer Groll, felizidad statt mourning show, vielleicht wird mir das eine Stirnfalte im neuen Jahr ersparen.
(1) Dieser Tage kann man keinen halbherzigen Stabreim formulieren, ohne ungute Assoziationen zu üblen politischen Parteien hervorzurufen – lassen wir uns nicht die Sprache stehlen!
(2) Jede Wette, dass die wenigsten in Wien Lebenden wissen, dass die Gasse, die vom Tuchlauben zum Artis führt, Schultergasse heißt! Wo treffen wir uns heut’ abend? Na in der Schultergasse, eh kloa! … Naaaa.